Sachbuch

Rudolf Hess. Der Stellvertreter.

Mehr als 20 Jahre hat Manfred Görtemaker, emeritierter Professor für Neuere Geschichte, an der Universität Potsdam zur Biographie des "Stellvertreters" Rudolf Hess gearbeitet.

Die letzten Jahrzehnte waren ja reich an immer neuen Lebensbeschreibungen Hitlers und seiner Weggefährten und Komplizen. Die „Schlüssellochperspektive“ bot hinlänglich Stoff für Fernsehserien und Illustriertenstories, die allerdings wenig Erkenntnisgewinn über die Mechanismen des deutschen Faschismus brachten.

Seltsam blässlich wandelte in den meisten dieser Werke der zweite Mann hinter Hitler, Rudolf Hess, durch die Geschichte des NS-Regimes. Eine Art Helferlein des personifizierten Bösen, Privatsekretär und serviler Schranze, der offenbar einen psychischen Defekt hatte, wäre er sonst wohl nicht 1941 nach Schottland geflogen, um ein Bündnis mit Großbritannien einzufädeln. Dazu gesellten sich überlieferte Mythen: Hess, der 1923/24 dem gescheiterten Putschisten Adolf Hitler in der komfortablen Festungshaft in Landsberg als loyale Schreibkraft und bessere „Tippmamsell“ für dessen Opus „Mein Kampf“ gedient habe; der unscheinbare Zuarbeiter des „Führers“, der nach der Machtergreifung immer mehr an Bedeutung verloren hätte. Der einen „Separatfrieden“ mit England angepeilt habe, um sich in der Reichskanzlei wieder ins Spiel zu bringen. Und, als Krönung, die diversen Theorien, dass Hess‘ Selbstmord 1987 in Wirklichkeit ein von der britischen Regierung in Auftrag gewesener Mord gewesen wäre.

Macht.

Görtemaker räumt kräftig auf. Der im ägyptischen Alexandria in einem völkisch-reaktionären Haushalt geborene Auslandsdeutsche, der in den ersten Jahren der Weimarer Republik zum fanatischen Antisemiten und Gefolgsmann des noch völlig bedeutungslosen Führers einer der zahlreichen militanten protofaschistischen Sekten wird, durch ein Studium der an den bayerischen Hochschulen kursierenden Theorien zur „Geopolitik“ ebenso wie die Beziehung zu seiner späteren Frau Ilse Pröhl (auch sie eine Nationalsozialistin der ersten Stunden!) immer enger an Hitler heranrückt, erste studentische SA-Abteilungen aufbaut, nach dem Novemberputsch 1923 untertaucht – dieser Rudolf Hess ist alles andere als ein willfähriger Speichellecker. In Sachfragen scheut der gehemmte junge Mann auch vor Konflikten mit seinem Idol nicht zurück. Ideologisch passt kein Blatt Papier zwischen die beiden – sonst hätte Hess wohl kaum den Aufstieg Hitlers zum Reichskanzler auf Schritt und Tritt begleitet und wäre wohl kaum als „Stellvertreter des Führers“ zum 2. Mann des „3. Reichs“ geworden.

Von der Öffentlichkeit unbemerkt, häufte Hess nach der „Machtergreifung“ 1933 eine unglaubliche Machtfülle an. Sei es die Ausschaltung der widerspensitgen SA-Führung oder die Verabschiedung der Nürnberger Rassegesetze – Hess war immer führend mit dabei. Im Gegensatz zu Figuren wie Göring, Goebbels, Himmler mied er die Kameraderie des „Berghofs“, war insofern Außenseiter, als er unerbittlich (und erfolglos) einen Kampf gegen Korruption und Bereicherung in den höheren Kreisen der NSDAP führte.

Seine Vision.

Nach der Ausweitung des „Reichs“ auf die „Ostmark“ und dem Überfall auf die Tschechoslowakei griff Hess ein altes Thema auf, dass er schon früh mit Hitler diskutiert hatte. Wäre es nicht möglich, die beiden „nordischen“ Völker Europas durch eine klare Trennung der Interessenssphären einander näher rücken zu lassen? Tatsächlich hatte Hess klarer als mancher andere an der Spitze des Naziregimes erkannt, dass angesichts des bevorstehenden Angriffs auf die Sowjetunion ein Zweifrontenkrieg nicht zu gewinnen wäre.

Görtemaker hat für die Vorgeschichte des Englandfluges von Hess umfangreiches, bisher nicht ausgewertetes, Archivmaterial und tausende Briefe Hess‘ bearbeitet. Hier finden sich viele neue und überraschende Details, ebenso zur „Nachgeschichte“ dieser Operation. Etwa die Überlegungen der Regierung Churchill, wie man den nun in England inhaftierten Stellvertreter Hitlers in der Auseinandersetzung mit dem „Alliierten“ Stalin am besten instrumentalisieren könnte.

Das bizarre Verhalten Hess‘ vor und während des Nürnberger Prozesses wird ebenso thematisiert wie die Strategie seines Verteidigers Seidl. Nicht ausgespart bleiben die immer wiederkehrenden, mehr oder minder intelligenten, Pläne zur Befreiung des „letzten Gefangenen in Spandau“ durch deutsche Neonazis.

Auch den abstrusen Mordtheorien wird von Görtemaker der Garaus gemacht.

Fazit

Nicht nur eine gut lesbare Biografie, Görtemakers Buch kann auch als eine „Komplettgeschichte“ des Nationalsozialismus und dessen Aufstieg zur Macht gelesen werden. Auch für Leserinnen und Leser empfehlenswert, die sich nur wenig mit diesem Geschichtskapitel beschäftigt haben und einen biografischen Zugang haben.


Angaben

Manfred Görtemaker
Rudolf Hess. Der Stellvertreter.
C.H. Beck Verlag / 758 Seiten
€ 39,95 (Gebunden)
ISBN 9783406652912
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