Die »Philosophenschiffe« waren eine – man will fast schon »originelle« sagen – Methode der russischen Revolutionäre, sich unliebsamer Intellektueller zu entledigen. Michael Köhlmeiers neuer Roman beschäftigt sich mit diesem weitestgehend vergessenen Phänomen der sowjetischen Geschichte und nimmt es mit der Wahrheit dabei – zum Besten des Romans – alles andere als genau.
Vertreibung
Im Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte der 100jährigen Architektin Perlemann-Jakob, die in den 1920ern aus dem postrevolutionären Russland vertrieben wird. Gemeinsam mit ihren Eltern und einigen wenigen anderen »Passagieren« wird sie an Bord eines Schiffes verbracht, das sie außer Landes bringen soll. Doch anstatt direkt auf das Exil zuzuhalten, hält das Schiff seine Position. Irgendwo im Nirgendwo. Langeweile stellt sich ein – und so erkundet die damals 14jährige jeden Winkel ihres schwimmenden Gefängnisses.
Was an Bord geschieht erzählt die alte Dame einem Schriftsteller, von dem sie annimmt, dass ihm später niemand glauben würde. Aber dass jemand dieser Geschichte Glauben schenkt ist ihr gar nicht wichtig – ganz im Gegenteil. Eigentlich macht dieser Umstand für sie erst den Reiz aus. Und für ihn? Wer weiß das schon so genau.
»Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser.«
Über die Grenzen der Wahrheit hinaus
Köhlmeier verwischt die Grenzen zwischen historischer Wahrheit und Fiktion so geschickt, dass man sie zum Teil kaum noch wahrnehmen kann. So schafft er Raum für seine Gedanken zur Radikalisierung von Menschen und Menschengruppen; schafft Nähe zu einer Geschichte, die so nie stattgefunden hat.
Und vielleicht auch zu unserem Verhältnis zur Wahrheit als solche. Denn charmanter gelogen als Anouk Perlemann-Jakob hat schon lange keine literarische Figur mehr, von der ich gelesen hätte. Oder … hat sie überhaupt gelogen?
Das Buch
Michael KÖHLMEIER
Das Philosophenschiff
Carl Hanser Verlag / 221 Seiten
€ 25.50 (Gebunden)
ISBN 9783446279421
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Verlagstext
Mit Lenin auf dem Sonnendeck – eine beinahe wahre Geschichte vom „erstklassigen Erzähler Michael Köhlmeier.“ Denis Scheck, ARD Druckfrisch
Mit diesem großen Werk schließt Michael Köhlmeier an seinen Bestseller „Zwei Herren am Strand“ an. Zu ihrem 100. Geburtstag lädt die Architektin Anouk Perleman-Jacob einen Schriftsteller ein und bittet ihn darum, ihr Leben als Roman zu erzählen. In Sankt Petersburg geboren, erlebt sie den bolschewistischen Terror. Zusammen mit anderen Intellektuellen wird sie als junges Mädchen mit ihrer Familie auf einem der sogenannten „Philosophenschiffe“ auf Lenins Befehl ins Exil deportiert. Nachdem das Schiff fünf Tage und Nächte lang auf dem Finnischen Meerbusen treibt, wird ein letzter Passagier an Bord gebracht und in die Verbannung geschickt: Es ist Lenin selbst.