Der schreckliche Abgrund unter dem dünnen Lack der Zivilisation
Paul Lynchs “Das Lied des Propheten” wurde 2023 mit dem Bookerpreis ausgezeichnet. Zum fünften Mal erhielt ein irischer Autor diesen seit 1969 vergebenen wichtigsten englischen Literaturpreis, und wieder einmal gab es heftige mediale Kontroversen, als die Jury den Preisträger bekannt gab.
Wenig erstaunlich waren es Massenblätter wie “Telegraph” und “Mail”, die mehr oder minder erzürnt Lynchs Werk als simplifizierend, linksgerichtet, kurzlebig, leichtgewichtig etc. abqualifizierten. Aber auch positive Rezensionen im “Independent” oder im “Guardian” taten sich schwer, das Buch einzuordnen. Immer wieder fiel das Wort “Dystopie”, was der Autor selbst nachdrücklich zurückgewiesen hatte.
Worum geht es überhaupt im “Lied des Propheten”?
Eines Abends klopft es an der Tür der Stacks in Dublin. Eilish, Mikrobiologin und Angestellte bei einem Pharmakonzern, sieht sich zwei Beamten einer neu geschaffenen politischen Abteilung der Guarda (der irischen Polizei) gegenüber. Es geht um ihren Mann Larry, der als stellvertretender Vorsitzender der Lehrergewerkschaft federführend an der Vorbereitung eines gesamtirischen Protests seiner Berufsgruppe in der Hauptstadt beteiligt ist. Zwar hat die Regierung der extrem nationalistischen Aktionspartei NAP begonnen, über Verordnungen das politische System umzubauen – aber das Demonstrationsrecht ist intakt, die Gewerkschaften agieren weitgehend ungestört – was also bedeutet der beunruhigende Besuch von Vertretern der Staatsmacht?
Die Stacks haben vier Kinder: Mark und Molly, zu Beginn des Buches gerade ins Teenageralter hineingewachsen, den jüngeren Sohn Bailey und Baby Ben. Dazu kommt noch Eilishs dementer Vater Simon, der zwar alleine lebt, aber auf dauernde Besuche seiner Tochter angewiesen ist. Seine zweite Tochter, Aine, ist schon vor Jahren nach Kanada gegangen.
Der Druck auf die Stacks nimmt zu, je näher die Lehrerdemonstration kommt – mit Sorge sieht Eilish an ihrem Arbeitsplatz, wie nach und nach Mitglieder der Regierungspartei in Schlüsselstellungen befördert werden und regierungskritische oder indifferente Mitarbeiterinnen hinausgemobbt werden.
Am Tag der Demonstration in Dublin muss Eilish im Fernsehen mitverfolgen, wie schwerbewaffnete Polizeieinheiten, Berittene und Schläger der NAP den Lehrerprotest buchstäblich niederschlagen. Larry verschwindet – Eilish versucht, Auskünfte über sein Schicksal zu erhalten, aber die Gardai wimmeln sie ab. Von der Gewerkschaftsanwältin erfährt sie, dass hunderte Aktivisten in einer Nacht- und Nebelaktion verhaftet wurden, dass ein Anhaltelager errichtet wurde, dass es entgegen der offiziellen Presseaussendugen in Dublin Tote gegeben hatte.
Die NAP regiert jetzt mit Notverordnungen. Wer sich dem neuen autoritären Kurs nicht beugt, muss um seine Arbeit, die Schulplätze seiner Kinder, die Bewilligung von Behördendokumenten bangen.
Normalität und Alptraum
Die einzelnen Kapitel des “Lied des Propheten” beschreiben, wie sich die gewohnte Normalität der Familie Stack (und damit ihrer gesamten Umwelt) in einen bedrückenden Alptraum verwandelt, der von Schikanen, kleinen oder größeren Quälereien und einer immer belastenderen Angst der Mutter Eilish um die Zukunft ihrer Kinder verwandelt. Obwohl sie nicht mehr glaubt, Larry jemals wieder zu sehen, klammert sie sich an die Illusion, dass ihr Mann irgendwann unerwartet vor der Tür stehen und sie und die Kinder in die Arme schließen würde.
Stilistisch fließen die Kapital ohne Gliederung in Absätze dahin, schaffen damit einen dichten erzählerischen Sog, der die Leserinnen und Leser mitreißt und an den Ängsten der Protagonistin teilhaben lässt.
Das Regime sieht sich bald Protesten und Aufständen gegenüber, die mit militärischen Mitteln niedergeschlagen werden. Als der 16jährige Mark zur Armee eingezogen werden soll, hilft ihm die Mutter unterzutauchen. Sie will ihn heimlich über die Grenze nach Nordirland schaffen lassen, aber Mark schließt sich der Untergrundarmee der Rebellen an. Das Land versinkt in einem Bürgerkrieg, der schleichend vorangeht, zu einer stückchenweisen Zerstörung der Städte führt.
Als Bailey, nunmehr 13 Jahr alt, während der Ausgangssperre von Regierungstruppen verhaftet wird, irrt Eilish auf der Suche nach ihrem Sohn durch das verwüstete Dublin, während sich Molly um Ben kümmert. Eilishs Vater Simon verschwindet.
Damit beginnt die lange Flucht der Reste der Familie Stack.
Dystopie?
“Das Lied des Propheten” ist für emphatische Menschen eine mitunter nur schwer erträgliche Geschichte. Ist der Roman dystopisch? Meiner Meinung nach verneint Lynch diese Frage zu Recht, denn die Geschichte der Stacks gibt oder gab es wirklich – in Syrien, in Bosnien, in Palästina, in Mali, in Teilen der Ukraine. Lynch verlegt diese Schicksale lediglich in ein Land, das wir entweder kennen oder uns zumindest vorstellen können. Weiße Europäer auf der Flucht berühren uns in der Literatur vielleicht stärker als reale, dunkelhäutige Flüchtlinge auf den Straßen. Dieser Kniff macht es zum Beispiel leichter verständlich, warum Menschen auf der Flucht “teure” Handys als erstes retten – weil sie ihre einzige Hoffnung sind, von ihren Liebsten zu hören, die sie irgendwo in den Wirren verloren haben.
Lynchs Buch ist nicht, wie es z. B. in der eher negativen Rezension der “New York Times” heißt, ein Roman über den “Aufstieg des Faschismus” in Europa. Gewiss legt Lynch mit der Wahl seiner Protagonistin und ihres Mannes Larry den Finger auf den wichtigen Punkt, dass eines der Merkmale faschistischer Bewegungen der Hass gegen die Organisationen der Arbeiterbewegung ist – aber das ist nicht das Hauptthema des Buches. Lynch zeigt vielmehr, wie brüchig die Normalität (oder was wir dafür halten) ist, und wie schnell sie komplett in Trümmer gehen kann. Welche Abgründe unter der Oberfläche und zivilisierten Kultur aufklaffen können.
Die Qualität des Buches macht es leicht, Lynchs Roman zu empfehlen. Ausnahmsweise verbinde ich meine uneingeschränkte Empfehlung aber mit einer Warnung: Menschen, die im Alltag starken psychischen Belastungen ausgesetzt oder emotional leicht aus der Fassung zu bringen sind, sollten ds Buch entweder nicht oder nur gemeinsam mit einem Menschen ihres Vertrauens lesen. Das gilt insbesondere für Mütter kleinerer Kinder.
Paul Lynch
Das Lied des Propheten
Klett Cotta Verlag / 320 Seiten
€ 26.80 (Gebunden)
ISBN 9783608988222